Sachbuch: Alex J. Kay in „Das Reich der Vernichtung“ über das NS-Regime (2024)

Während die Frage nach dem „Wie?“ der Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutsche Reich früh geklärt werden konnte, bleibt das „Warum?“ bis heute eine offene, viel diskutierte Forschungsfrage. Nachdem Raul Hilberg schon 1961 in seinem Pionierwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ den Holocaust detailliert und überzeugend als einen arbeitsteiligen Verfolgungs- und Mordprozess erklärte, an dem Millionen von stillschweigenden Mitläufern, Angestellten in Banken und Versicherungen, Beamte auf kommunaler Ebene bis zu Wehrmacht, Reichsbahn und Auswärtigem Amt mitwirkten und bei dem es über die Judenräte sogar gelang, die Opfer selbst zu Werkzeugen ihrer eigenen Vernichtung zu machen, scheiterte Hilberg an seinem nächsten Forschungsvorhaben, das sich dem „Warum?“ widmen sollte.

Saul Friedländer erweiterte Hilbergs täterzentrierte Perspektive gut drei Jahrzehnte später zu einer „integrierten Holocaustgeschichte“, die den Täterdokumenten die Zeugnisse von Verfolgten und Überlebenden gleichberechtigt zur Seite stellte. Zugleich beharrte Friedländer darauf, dass der Holocaust wegen seines „absoluten Charakters“ nur singulär betrachtet und nicht etwa in einem größeren Bezugsrahmen unter andere nationalsozialistische Massenverbrechen subsumiert werden könne.

Wiederum einige Jahrzehnte später widerspricht der britisch-deutsche Historiker Alex J. Kay ausdrücklich diesem Diktum und legt nun unter dem sprechenden Titel „Das Reich der Vernichtung“ in sicher nicht zufälliger Anlehnung an Friedländers Wortwahl eine „integrative Geschichte“ des nationalsozialistischen Massenmordens vor, in der er sich auch an einer Antwort auf die „Warum?“-Frage versucht.

In seiner Darstellung wird der Holocaust als einer von sieben Verbrechenskomplexen analysiert – wenngleich die europäischen Juden mit 5,8 Millionen Toten unter den von Kay konstatierten insgesamt dreizehn Millionen zivilen Mordopfern der NS-Vernichtungspolitik den zahlenmäßig größten Anteil ausmachten und er den Judenmord im Unterschied zu den anderen Gewalttaten als „beispielloses Phänomen“ hervorhebt.

Eine auf die Täter fokussierte Darstellung

Neben dem Holocaust werden sechs weitere systematische NS-Massenmorde und Hauptopfergruppen untersucht: die Kriegsgefangenen der Roten Armee, die europäischen Roma, die Insassen von psychiatrischen Einrichtungen und Krankenhäusern, die sowjetische Stadtbevölkerung, die polnische Führungsschicht und die Zivilisten aus vor allem ost- und südosteuropäischen Kleinstädten und Dörfern, die unter dem Vorwand der „Partisanenbekämpfung“ ermordet wurden. Sein Kriterium für diese Kategorisierung der Opfergruppen ist dabei die nicht weiter erläuterte Mindestzahl von jeweils 100.000 Toten pro Gruppe, sodass etwa die als hom*osexuelle verfolgten und getöteten Menschen nicht in die Betrachtung einfließen.

Allen diesen Opfergruppen ist nach Kay vor allem aber gemeinsam, dass sie als ernsthafte Gefahr für eine erfolgreiche Kriegsführung der Nationalsozialisten galten. Demnach lässt sich die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nicht von der Kriegsführung trennen. Beide verfolgten das gleiche Ziel: den Krieg um jeden Preis zu gewinnen.

Sachbuch: Alex J. Kay in „Das Reich der Vernichtung“ über das NS-Regime (1)

Alle Menschen, die mittelbar oder unmittelbar als potentielle Bedrohung für einen deutschen Sieg galten, mussten sterben. Kays chronologisch aufgebaute Darstellung beginnt daher im Jahr 1939 mit der Tötung von kranken und behinderten Menschen im Deutschen Reich und in Polen, die als Belastung für die im Krieg knappen Nahrungs-, Unterbringungs- und Medizinressourcen galten.

Zentrales Erklärungsmoment für die deutsche Mordmotivation, die sich aus einer spezifischen, auch situativen, Tendenz, „extreme Lösungen für vermeintliche Probleme anzustreben“, und einer „zerstörerischen Konformität“ speiste, ist bei Kay neben Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus das Trauma der Niederlage von 1918, die es in diesem Krieg unter allen Umständen zu verhindern galt. Unter anderem zitiert Kay aus der Posener Geheimrede Heinrich Himmlers, in der dieser im Oktober 1943 die Ermordung der europäischen Juden als „Ruhmesblatt unserer Geschichte“ bezeichnete, denn wenn „noch die Juden als Geheimsaboteure, Agitatoren und Hetzer“ agieren würden, befände man nun sich im Kriegs-„Stadium des Jahres 1916/17“.

Dinge, die man bislang übersehen hat

In seiner auf die Täter fokussierten Darstellung lässt Kay neben Egodokumenten der Mörder auch Brief- und Tagebuchauszüge der Verfolgten oder Zeugenaussagen von Überlebenden einfließen. Oft geht es dabei um das Los der verfolgten und ermordeten Kinder. Kay stellt Einzelschicksale dar, nennt konkrete Namen, zeigt Abbildungen, um zumindest einige wenige Minderjährige aus der Masse von Millionen ermordeter Kinder herauszulösen.

Neben das Erschießen und das Ersticken tritt in seiner Gewaltgeschichte das Aushungern als dritte Hauptmordmethode. Besonders eindringlich liest sich die Darstellung der Blockade Leningrads, aber auch die Schilderung des Warschauer Aufstands und der Zustände in den Lagern für sowjetische Kriegsgefangene.

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Die Zielgruppe des Buches bleibt unklar. Für Leser, die sich zum ersten Mal im Detail mit dem Holocaust befassen möchten, fehlt die Vor- und Nachgeschichte des Genozids. Für Leser, die bereits mit der Materie vertraut sind, bietet das Werk kaum neue Erkenntnisse. Die personellen und organisatorischen Interdependenzen zwischen den verschiedenen Mordprogrammen, etwa zwischen der „Euthanasie“ und dem Judenmord, sind frappierend, aber schon an anderer Stelle behandelt worden. So wird das vorhandene Wissen von Kay neu angeordnet, Einzelaspekte werden anders oder stärker gewichtet. Im besten Fall kann eine solche veränderte Perspektive Dinge zum Vorschein bringen, die man bislang übersehen hat.

Die kürzlich erschienene Darstellung von Dieter Pohl, „Nationalsozialistische Verbrechen 1939–1945“, verfolgt den gleichen Ansatz einer Gesamtschau aller gegen Zivilisten gerichteten NS-Mordkampagnen im besetzten Europa, erscheint aber systematischer und analytisch gehaltvoller, auch wenn Kay die originelleren, gleichwohl zum Widerspruch reizenden Thesen formuliert. Als Raul Hilberg wenige Jahre vor seinem Tod in einem Zeitungsinterview einmal gefragt wurde, ob die Frage nach dem „Warum?“ wohl jemals geklärt werden könnte, antwortete er vielsagend: „Zu jeder Zeit – wenn man sich zufriedengibt mit einer halben Antwort.“

Alex J. Kay: „Das Reich der Vernichtung“. Eine Gesamtgeschichte des nationalsozialistischen Massenmordens. Aus dem Englischen von Thomas Bertram. wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2022. 456 S., Abb., geb., 38,– €.

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